Beratung des Versicherungsnehmers im Fernabsatzgeschäft

von Rechtsanwalt Michaelis LL.M.,
Fachanwalt für Versicherungsrecht (Kanzlei Michaelis Rechtsanwälte, Hamburg)

Der Fernabsatz wird als Vertriebsweg immer wichtiger. Die meisten Versicherer nutzen inzwischen die Möglichkeit zum Fernabsatz. Aber auch viele Vermittler haben die Chancen des Fernabsatzes erkannt und vermitteln Versicherungsverträge über das Internet oder Telefon, ohne dass ein persönlicher Kontakt mit dem Versicherungsnehmer zustande kommt. Da kein persönliches Kundengespräch stattfindet, ist der rechtssichere Beratungsvorgang des Versicherungsnehmers sehr problematisch. Der Versicherer ist insoweit durch § 6 Abs.6 VVG begünstigt, als dass er im Fernabsatzgeschäft von seiner Beratungspflicht nach § 6 Abs.1, 4 VVG befreit ist. Eine entsprechende Regelung für Vermittler fehlt jedoch im System des § 61 VVG. Es stellt sich die Frage, wie diese Problematik zu lösen ist. Hierfür gibt es folgende Ansätze:

I. Erleichterter Beratungsverzicht

Baumann spricht sich im Ergebnis wohl für eine de lege ferenda herabgestufte Anforderung an den Beratungsverzicht des Kunden aus (vgl. VersR 2009, 478, 480). Danach solle das Schriftformerfordernis des § 61 Abs.2 VVG entfallen und ein formfreier Verzicht des Kunden auf die Beratung möglich sein.

Dieser Ansatz hätte zum Vorteil, dass der Umstand der Nichterbringung der Beratung klar und deutlich gegenüber dem Kunden kommuniziert würde und der Kunde sich freiwillig dazu entschließt auf die Beratung zu verzichten. Sofern das Transparenzgebot beachtet worden ist, ist nicht ersichtlich, weshalb die Vertragsparteien nicht einen formlosen Beratungsverzicht vereinbaren können. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade im Internet sogar in der Regel die Textform gewahrt sein würde.

Dem ist entgegen zu halten, dass gesetzliche Formvorschriften im Interesse der Rechtssicherheit nicht aus bloßen Billigkeitserwägungen außer acht gelassen werden dürfen (Ständige Rechtsprechung vgl. BGHZ 45, 179; BGHZ 92, 164, 172). Ausnahmen sind nur zulässig, wenn es nach den Beziehungen der Parteien und dem gesamten Umstand mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, das Rechtsgeschäft am Formmangel scheitern zu lassen. Das Ergebnis muss für die betroffene Partei nicht bloß hart, sondern schlechthin untragbar sein (BGHZ 48, 396, 398; BGHZ 138, 339, 348).

Sicherlich ist eine Beratung des Kunden im Fernabsatz nur schwer möglich. Jedoch ist sie nicht schlechthin undurchführbar. Im Telefonvertrieb steht der Vermittler in direktem Kontakt zum Kunden und kann diesen problemlos nach dessen Wünschen und Bedürfnissen befragen. Daneben kann auch eine Beratung über die wesentlichen Punkte des Versicherungsschutzes erfolgen. § 61 Abs.1 VVG bietet insoweit Spielraum, als dass die Beratung je nach Kundensituation auch relativ kurz gefasst werden kann. Stellt der Vermittler jedoch fest, dass eine tiefere Beratung des Kunden eigentlich erforderlich wäre, so hat er den Kunden hierauf hinzuweisen, die Vermittlung abzulehnen und den Kunden gegebenenfalls auf ein umfassendes persönliches Gespräch vor Ort zu verweisen.

Auch im Internet ist eine kompakte und allgemeine Darstellung der Kernpunkte des Versicherungsschutzes möglich. Alsdann kann der Kunde durch Abfrage seiner Wünsche und Bedürfnisse und einer entsprechenden Verlinkung zum empfohlenen Versicherungsprodukt geführt werden. Somit ist auch im Internet eine Beratung des Kunden nach § 61 VVG durchaus möglich.

Eine Anwendung der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze muss zu dem Ergebnis kommen, dass ein formloser Verzicht auf die Beratung nicht möglich ist. Ein solcher, entgegen der Vorschrift des § 61 Abs.2 VVG erteilter, formloser Verzicht wäre stets nach § 125 BGB unwirksam. Der rechtlichen Argumentation Baumanns ist aus Gründen der Vorsicht besser nicht zu folgen.

II. Mangelnder Anlass

Da ein formloser Verzicht nicht möglich ist und ein schriftlicher Verzicht in der Praxis Schwierigkeiten bereitet, stellt sich die Frage, wie tiefgreifend die Beratungspflicht des Vermittlers nach § 61 Abs.1 VVG im Fernabsatzgeschäft ist. Dabei ist zunächst die Frage zu erörtern, inwieweit der Kunde im Fernabsatzgeschäft überhaupt eine Beratung erwartet und ob in diesem Zusammenhang die Beratungspflicht des Vermittlers nicht ohnehin mangels Anlass nicht besteht. Dies ist für den Internetvertrieb und für den Telefonvertrieb gesondert zu erörtern.

Das Internet bietet eine breite Plattform der Informationsbeschaffung. Der Nutzer besucht auf der Suche nach der gewünschten Information eine Vielzahl unterschiedlicher Seiten. Eine persönliche Beratung wird in der Regel nicht von ihm erwartet. Als allgemeinen Grundsatz kann man davon ausgehen, dass der Kunde, welche sich im Internet auf die Suche nach Versicherungsschutz begibt, damit bewusst gegen die persönliche und individuelle Beratung durch einen Vermittler vor Ort entscheidet. Er will keine ausführliche Beratung, sondern vielmehr einen Vergleich der entscheidenden Parameter des Versicherungsschutzes und der Prämie, um anschließend selbst eine Entscheidung zugunsten eines Versicherungsvertrages zu treffen. Dennoch kann er erwarten über mögliche „Fußangeln“ (Deckungslücken) im Vertrag informiert zu werden und hat insoweit sicherlich ein Beratungsinteresse, als dass er erwartet, jedenfalls über die besonderen Vor- und Nachteile des jeweiligen Vertrages informiert zu werden.

Viele Kunden nutzen das Internet auch um sich gezielt in einer Versicherungssparte beraten zu lassen und bevorzugen die Anonymität des Internets, wobei sie allerdings eine dem persönlichen Beratungsgespräch vergleichbare Leistung erwarten. Da sich eine einheitliche Erwartungshaltung des Kunden somit nur schwer bestimmen lässt, ist aus Vorsicht davon auszugehen, dass ein Beratungsanlass besteht.

Im Telefonvertrieb dürfte die Erwartungshaltung des Kunden im Vergleich zum Internetvertrieb erhöht sein. Es entsteht zwischen dem Kunden und dem Anrufer ein zwischenmenschlicher Kontakt, welcher nicht mehr mit der „sterilen“ Situation des Internetkunden vergleichbar ist. Der Anrufer erhält durch die Angaben des Kunden vielmehr ein genaues Bild seiner Vorstellungen. Dementsprechend werden auch Fehlvorstellungen und mangelndes Wissen des Kunden in der Regel ersichtlich. Dies gilt auch für eine generelle Unwissenheit des Kunden.

Aufgrund der persönlichen Beziehung am Telefon erwartet der Kunde dabei auf seine Fehlvorstellungen aufmerksam gemacht zu werden, bzw. entsprechend beraten zu werden. Von einem mangelnden Beratungsanlass kann im Telefonvertrieb daher nicht ausgegangen werden.

Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass ein mangelnder Beratungsanlass nicht gegeben ist und der Kunde grundsätzlich erwartet – und erwarten darf – entsprechend der Bestimmung des § 61 Abs.1 VVG beraten zu werden.

III. Analoge Anwendung des § 6 Abs.6 VVG

Eine Befreiung des Vermittlers von seiner Beratungspflicht nach § 61 Abs.1 VVG könnte sich weiter aus einer analogen Anwendung der Bestimmung des § 6 Abs.6 VVG ergeben.

1.) Regelungslücke

Zunächst müsste eine ungewollte Regelungslücke bestehen. Hierfür ist in erster Linie die Gesetzesbegründung zu § 61 VVG heranzuziehen.

Der Gesetzesbegründung zu § 61 VVG sind keine Angaben zum Fernabsatz zu entnehmen. Der Gesetzgeber ging bei der Konzeptionierung des § 61 VVG von dem klassischen Vermittlertyp aus, welcher Versicherungsschutz im persönlichen Gespräch vermittelt. Das Phänomen des Fernabsatzgeschäfts, welches auch für Vermittler immer mehr an Bedeutung gewinnt, wurde hinsichtlich der Vermittler nicht berücksichtigt. Ausnahmen von der Beratungspflicht gelten nach § 65 VVG lediglich für die Vermittlung von Großrisiken. § 65 VVG setzt damit lediglich Art. 12 Abs.4 der EU-Richtlinie 2002/92/EG um. Dementsprechend könnte man davon ausgehen, dass der Gesetzgeber eine abschließende Regelung schaffen wollte, bei welcher er sich bewusst dafür entschieden hat, die Regelung des § 65 VVG nicht auf den Fernabsatz auszudehnen. Eine planwidrige Regelungslücke würde demnach nicht bestehen. Und eine Analogie scheidet aus.

Die Bestimmungen des § 6 Abs.6 VVG und des § 61 VVG wurden andererseits nahezu zeitgleich konzipiert. Wäre sich der Gesetzgeber des Umstandes bewusst gewesen, dass auch Vermittler im Fernabsatzgeschäft Versicherungsverträge vermitteln, so hätte er, wenn er keine Befreiung in § 65 VVG hätte aufnehmen wollen, hierzu jedenfalls in der Gesetzesbegründung Stellung genommen. Der Umstand, dass dies nicht der Fall ist, könnte dafür sprechen, dass er die Problematik nicht erkannt hatte und es ist daher nach unserer Auffassung eventuell von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen. Richterliche Auffassungen sind abzuwarten.

2.) Vergleichbare Interessenlage

Weiter müsste die Interessenlage des § 6 Abs.6 VVG mit der des § 61 VVG vergleichbar sein. Für eine vergleichbare Interessenlage spricht der im Vergleich zu § 6 Abs.1 VVG identische Wortlaut des § 61 Abs.1 VVG.

Weiter enthält die Gesetzesbegründung zu § 6 Abs.6 VVG folgende Ausführungen:

„Entsprechend der für Versicherungsvermittler vorgesehenen Regelungen werden bezüglich der Verpflichtung des Versicherers die Versicherungsverträge über ein Großrisiko vom Anwendungsbereich des § 6 VVG-E ausgenommen.“

Wie die Ausführungen der Gesetzesbegründung verdeutlichen, wollte der Gesetzgeber also zwei identische Ausnahmetatbestände schaffen. Er ging generell wohl von einer vergleichbaren Interessenlage aus.

Verdeutlicht man sich die Situation von Versicherer und Vermittler im Verhältnis zum Kunden beim Fernabsatz, so stellt man fest, dass die Stellung beider fast identisch ist. Sowohl Versicherer als auch Vermittler haben lediglich mittels des Fernkommunikationsmittels Kontakt zum Kunden. Beide stehen hinsichtlich der von ihnen eigentlich zu erbringenden Beratung vor denselben Problemen bei der Umsetzung. Aus der Stellung des Vermittlers außerhalb des Versicherungsvertrages ergeben sich insoweit keine Besonderheiten. Die Interessenlage könnte vergleichbar sein.

Somit könnte die Ausnahmeregelung des § 6 Abs.6 VVG analog auch auf die Bestimmung des § 61 VVG anzuwenden sein. Danach würde der Vermittler im Fernabsatz keine Beratung des Kunden schulden.

IV. Ergebnis

Im Ergebnis ist somit festzustellen, dass auch gute Gründe dafür sprechend, dass der Vermittler analog § 6 Abs.6 VVG nicht verpflichtet ist, seinen Kunden im Fernabsatz nach § 61 VVG zu beraten. Solange hierzu keine gesicherte Rechtsprechung vorliegt, ist dem Vermittler jedoch zu empfehlen auch im Fernabsatzgeschäft eine Beratungsleistung zu erbringen. Rechtlich ist dieser Themenkomplex äußerst problematisch und höchste Vorsicht geboten. Derartige Vertriebsabläufe sind daher jedenfalls mit dem Vermögensschadenhaftpflichtversicherer abzustimmen und anzuzeigen.

 

Zurück zur Übersicht